- Lebensphilosophie: Werden und Wandel - Ein Blick auf den schöpferischen Lebensprozess
- Lebensphilosophie: Werden und Wandel - Ein Blick auf den schöpferischen LebensprozessDie neuere Lebensphilosophie hat ihre Ursprünge in der deutschen Aufklärung und Romantik. Über die idealistische Naturphilosophie Schellings und Hartmanns sowie die Willensmetaphysik Schopenhauers und Nietzsches wirkte sie ins 20. Jahrhundert hinein. Um die Jahrhundertwende formierte sich die klassisch moderne Lebensphilosophie schließlich vor allem in den Werken Wilhelm Diltheys, Henri Bergsons, Georg Simmels und in dem biologischen Vitalismus Hans Drieschs. Über populärwissenschaftliche Schriften wirkte sie auch ideologiebildend auf alltagspraktische Kulturströmungen, insbesondere die Jugendbewegung und die Lebensreform mit ihrer Zivilisationsflucht, Natursehnsucht und Nacktkörperkultur.Seinen großen Einfluss verdankt der Begriff des Lebens wohl der Tatsache, dass er breiten »Schichten des geistigen Europas« den »Leitgedanken« und dem »modernen Leben den Rahmen« zurückgab, der dem frühen 19. Jahrhundert weitgehend gefehlt hatte. In ihm kristallisierten sich die Hoffnungen einer ganzen Epoche auf eine grundlegende Erneuerung der modernen Kultur. Diese Epoche war gekennzeichnet durch das von Freud 1930 analysierte »Unbehagen in der Kultur«. Über etwa 60 Jahre hinweg war von einer Krise der Wissenschaft und der Kultur die Rede. Auch die geistige Erlösung, die sich viele vom Ersten Weltkrieg erhofft hatten, blieb aus. Noch 1935 beklagt Edmund Husserl eine »Krisis« in der »Sinnhaftigkeit« des »kulturellen Lebens«. Diesem kulturellen Unbehagen entsprach eine zunehmende Skepsis gegenüber der wissenschaftlichen Rationalität. Die Skepsis galt dem »stahlharten Gehäuse« des wissenschaftlichen Fortschritts, dem »verstandesmäßig rechnenden Leben der Neuzeit« und seiner »Lebenstechnik«, wie es Max Weber und Georg Simmel formulierten. Dem Fortschritt gab man die Schuld daran, dass das moderne Leben dabei sei, zu einem mechanischen Ganzen zu werden, »dem die Seele fehlt«. Das falsche, mechanische Ganze bedrohe die Reste wirklicher, lebendiger Ganzheit. Es bewirke einen Zerfall sozialer Bindungen sowie haltgebender Traditionen und mache aus aktiven Subjekten passive Objekte. Überdies wurde das mechanisierte Leben insbesondere der Großstadt für die Zersplitterung der Wahrnehmung und das nervöse Zeitalter verantwortlich gemacht.Solche Kritik verstärkte eine bereits im 19. Jahrhundert feststellbare tiefe Verunsicherung des Vertrauens in Vernunft und Rationalität. Ideengeschichtlich geht diese Verunsicherung auf die philosophische Wende von der aufklärerischen Vernunftphilosophie Kants zur Naturphilosophie zurück. In der Aufklärungsästhetik von Kant und Moritz galt das Kunstwerk als in sich selbst vollendetes, individuelles Ganzes, als Vorbild einer möglichen Harmonie zwischen (Trieb-)Natur und Vernunft. Die Romantik hoffte dann, Leben und Kunst von der Herrschaft des isolierenden und trennenden Verstandes befreien, das Leben poetisieren und die Poesie verlebendigen zu können. Das Kunstwerk sollte nach einem »inneren Lebensprinzip« - Schlegel zufolge - zu einem zusammenhängenden Ganzen gebildet werden. Später löste die lebendige Natur zunehmend das Kunstwerk als Hoffnungsträger ab. Immer weniger ließen sich Einheit, Allgemeinheit und Notwendigkeit der Vernunft aus einem unerkennbaren außerweltlich göttlichen Sein begründen, sodass sie nunmehr in der menschlichen Natur gesucht wurden.Wegen ihrer Kritik an der wissenschaftlichen Rationalität ist der Lebensphilosophie immer wieder, zuerst von Georg Lukács, der Vorwurf gemacht worden, die Vernunft zerstört und mit ihrem Irrationalismus den deutschen Faschismus vorbereitet zu haben. Doch im Unterschied zu ihrer destruktiven Strömung kritisierte die klassische Lebensphilosophie die moderne Kultur und ihre Rationalität zwar, lehnte sie aber nicht grundsätzlich ab. Sie wollte das rationale Erkennen nicht ganz abschaffen, sondern - wie Rudolf Christoph Eucken - die im Schwinden geglaubte Ganzheit im Rückgriff auf den Lebensprozess wieder herstellen. Dadurch hoffte sie, innerhalb der Kultur ein ganzheitliches, lebendiges sowie schöpferisches Denken aus der Natur des Individuums wiedergewinnen zu können. Die Lebensphilosophie vertrat eine Auffassung vom Leben als kreativer, psychischer Innenseite der Kultur. Und weil das Leben stets an die Form des Organismus gebunden bleibe, betrachtete sie die organischen Individuen als seine Repräsentanten. Selbst Henri Bergson, von dem der Begriff des überindividuellen »élan vital«, der Lebenskraft, stammt, behauptete, dass der überindividuelle Lebensstrom von sich aus danach strebe, isolierte und geschlossene Systeme zu bilden. Diese lebendigen Systeme seien im Unterschied zur Materie, deren Kräfte sich in alle Richtungen verströmen, individuelle, beseelte Ganzheiten.Der Begriff des Organismus entstammt der Naturphilosophie und der Biologie. In Abgrenzung zur mechanistisch-naturwissenschaftlichen Maschinentheorie des Lebens hielt es der Vitalismus für das grundlegende Merkmal des Organismus, dass er sich autonom, also selbstständig entwickeln könne und dass das Prinzip dieser Entwicklung ein geistig-seelisches sei. Hans Driesch hatte in Experimenten mit Seeigeleiern herausgefunden, dass aus einem zerteilten Ei gleichwohl zwei ganze Seeigel entstanden. Daraus folgerte er, es müsse in jedem Organismus die Idee einer Ganzheit geben, die das Wachstum zielgerichtet leite. Diese »Entelechie« bildet ihm zufolge auch die Grundlage der eigenständigen psychischen Entwicklung menschlicher Individuen.Bergson, Simmel und Driesch verorteten die Basis menschlicher Autonomie in der Dauer, in der psychischen Zeit des Individuums. Auch Heidegger erklärte die Zeit zum Grundlegenden des menschlichen Daseins. Doch die Lebensphilosophie unterscheidet sich prinzipiell von Heidegger, der das »Sein zum Tode« zum Eigentlichen des Daseins erklärte. Während dieser davon ausging, dass das menschliche Dasein erst im Hinblick auf den Tod zu einem Ganzen werde, verstand die Lebensphilosophie Zeit in einem konstruktiven, aufbauenden Sinn.In der Fähigkeit, Zeit als Erinnerung beziehungsweise Gedächtnis in sich aufzubewahren, sah sie den Ursprung der menschlichen Freiheit, der Möglichkeit, sich von der unabweisbaren Kraft der Naturgesetze zu lösen. Als einziges Lebewesen sei das Individuum frei, triebhafte Reaktionen aufzuhalten und sich selbst Zwecke zu setzen. Seine Freiheit vom instinkthaften Naturzwang und seine »genuine Schöpfungskraft« mache es zum Produzenten und zum Produkt seiner Entwicklung. Durch diese Annahme eines sich selbst erschaffenden Individuums erhalte das Leben die Bedeutung eines dem künstlerischen Schaffen analogen schöpferischen Prozesses. Der Einzelne ist dann, wie bereits Nietzsche bemerkte, Künstler und Kunstwerk zugleich. Und nicht zuletzt meinte man, das Individuum könne geistig-ideelle »Welt-Ganzheiten« (Simmel) beziehungsweise »Weltbilder« (Husserl) schaffen. Sie waren der lebensphilosophisch-individualistische Ersatz für den idealistischen Anspruch, ein einziges philosophisches System zu entwickeln, das absolute Geltung beanspruchen könne.Die Lebensphilosophie wies mithin dem lebendigen Individuum die gleiche utopische Kraft zur Aufhebung des kulturellen Bruchs mit der Natur zu, die in der Aufklärung dem autonomen Kunstwerk zuerkannt worden war. Und wie diesem eine Einheit von Form und Stoff unterstellt wurde, so dem Leben die Einheit von Form und Bewegung. Als das Dynamische des Organismus galt seine Lebenszeit beziehungsweise innere Dauer. Dort, wo sich, wie Bergson schrieb, die innere Dauer in den äußeren Raum übersetzt, dort sollten sich aus dem Lebensstrom Formen wie etwa Zahlen, Rationalität und Sprache kristallisieren, verfestigen und sich dem Leben gegenüber verselbstständigen. Ausgehend von der psychischen Dauer des Individuums glaubte man gegen eine erstarrte wissenschaftliche Rationalität, einer ursprünglichen und schöpferischen Vernunft Geltung verschaffen zu können.Anders als die Naturwissenschaften sollten die Geisteswissenschaften nach Dilthey »vom Lebensreichtum des einzelnen Individuums« aus den Lebenszusammenhang als »Organismus der Wirklichkeit, in welchem allein das Leben selber pulsiert«, untersuchen. Auf diese Weise erschien die dingliche Außenwelt nicht mehr als fremd, sondern als »mein Erleben«. Während die Teile im leblos materiellen Bereich lediglich nacheinander und nebeneinander bestehen könnten, seien sie im psychischen ineinander verwoben. Um diesem inneren Zusammenhang näher zu kommen, gelte es, so Bergson, die erstarrte Oberfläche des Bewusstseins zu durchbrechen und sich »in den Fluss des inneren Lebens« zu versetzen. Damit es dort einen ganzheitlichen Zusammenhang erschließen könne, müsse sich das Denken von der räumlich zersplitternden Wahrnehmung und den starren Begriffen befreien und sich als Intuition der seelischen Zeit überlassen. Wenn es dieser Intuition gelänge, sich ganz von der äußeren Materie zu lösen, dann könne das eine »Rückkehr zum Unmittelbaren« bedeuten - so Bergsons Zielbestimmung. Dilthey zufolge führt schließlich ein unmittelbares Erleben des individuellen seelischen Zusammenhangs als Ganzheit zur Ganzheit des Lebens überhaupt.Diese Unmittelbarkeitsforderung verleiht der Lebensphilosophie insbesondere bei Bergson einen konservativ-irrationalistischen Grundzug. Doch selbst Bergsons Auffassung kann noch nicht in einem totalitären Sinn konservativ genannt werden, weil für sie das Lebensganze nur durch den Erhalt, nicht aber durch die Auflösung des Individuellen erfahrbar ist. Eine Wendung ins Totalitäre nahm die Lebensphilosophie erst bei Autoren wie Spengler und Klages, die die rationale Kultur dämonisieren und sie zerstört wissen wollten.Dr. Angelika EbrechtGeschichte der Philosophie im 19. Jahrhundert. Positivismus, Linkshegelianismus, Existenzphilosophie, Neukantianismus, Lebensphilosophie, herausgegeben von Ferdinand Fellmann. Reinbek 1996.
Universal-Lexikon. 2012.